„So eine Gemeinheit!“
Zum 50-jährigen...

„So eine Gemeinheit!“, riefen 1974, heute vor 50 Jahren, die Leute in den Dörfern am nördlichen Kaiserstuhl, als das Gemunkel zur Gewissheit wurde:
„Schdell dir vor: Deä wänn dess Briisacher Kernkraftwärk jetz zu uns häär boje! Ja, uff Wyhl!“
Das seit 1969 geplante Atomkraftwerk bei Breisach am südlichen Kaiserstuhl sollte wegen der anschwellenden Proteste der dortigen Bauern und Winzer z.B. aus Ihringen, Achkarren, Burkheim und Oberrotweil einfach nur 12 Kilometer am Rhein nordwärts in den anderen Landkreis verlegt werden.
Die Rufe „So ä Gemeinheit! Mir sin degeege!“, die schon bei den ersten Informationsabenden zu hören waren, verebbten zwar in diesem Landkreis. Aber die vom Schlagwort „Ruhrgebiet am Oberrhein“ hellhörig gewordenen Bevölkerung hatte ja auch in den nördlichen Orten Verwandte, hatte Telefon, hörte Radio und las Zeitung. Die Hiobsbotschaft brauchte z.B. zu den nördlichen Kaiserstuhlorten Sasbach, Jechtingen, Endingen oder Bahlingen nicht einmal eine halbe Stunde.
Auch hier befürchtete man das Allerschlimmste: Die eigene kleinbäuerliche Existenz und die Gesundheit aller Bewohner würde von überdimensionalen Kühltürmen („Heecher als de Friburger Minschderdurm!“) und durch atomare Strahlenemissionen bedroht.
Doch damit nicht genug. Denn überm Rhein, gegenüber und praktisch in Sichtweite der eigenen Reben am Kaiserstuhl, sollte bei Marckolsheim auch noch ein Bleichemiewerk mit ebenfalls Gesundheit und Weinbau gefährdender Abluft gebaut werden.
Einsprüche und Protestbriefe dagegen schienen in den Wind geblasen. Als im September 1974 Bagger bei Marckolsheim ihre Arbeit aufnahmen, setzten sich ein paar Kaiserstühler Bauersfrauen ungeniert in die ausgehobenen Bauzaunlöcher. Denn wenige Wochen davor hatte sich die „Föderation der badisch-elsässischen Bürgerinitiativen“ gegen beide Bauvorhaben gegründet mit dem Versprechen, sich gegenseitig über die damals noch bestehende deutsch-französische Staatsgrenze hinweg im Widerstand zu unterstützen. Und der schwoll in der Raumschaft, von der Rheinebene übern Schwarzwald bis ins Markgräflerland und noch weiter, zu ungeahnter Stärke an.
„Dess isch doch e Soierej. Do wirsch eifach nid froggt vu dääne Herre!“
hieß es dann bei den Platzbesetzern in Marckolsheim, die ein halbes Jahr nicht vom Bauplatz gewichen sind, was seinerseits die Planer der Bleichemiefabrik als „Gemeinheit!“ ansahen, denn sie fanden keine Unterstützung bei der französischen Polizei und den Behörden – im Gegenteil! Diese Firma war ja aus München, also aus Deutschland (!) und die Elsässer waren schon davon nicht begeistert, aber auch nicht von so einer Industrie. Man ließ die badisch-elsässischen Besetzer gewähren. Letzter Clou an
„Gemeinheit“ lieferte dazu der baden-württembergische Ministerpräsident Filbinger im Frühjahr 1975, als die Besetzung des Bauplatzes im Wyhler Rheinauewald in Gang kam und er auch qua Amt im Aufsichtsrat der AKW-Betreiberfirmen „Badenwerk“
und „Kraftwerkunion-Süd“ aus Karlsruhe alle Register an Unterstützung ziehen wollte. Er verstieg sich, öffentlich um Beifall bei den widerständigen Kaiserstühlern heischend, zu der Behauptung:
„Seht her! Durch meine Intervention ist der Bau der ungeliebten Bleichemiefabrik im Elsaß gestoppt worden!“.
Ein Gelächter ging durch die Kaiserstuhldörfer ob dieser Dreistigkeit aus Filbingers Mund. Denn jeder wußte, durch die Monate dauernde, hartnäckige Besetzung des Bauplatzes, auch über die kalten Wintermonate hinweg, verlor der Bauherr die Lust. So wie auch Jahre später die Stuttgarter CDU-Landesregierung gegen die zähe Widerstandsarbeit der „Föderation der badisch-elsässischen Bürgerinitiativen“ das große Prestige-Projekt eines „AKW am Kaiserstuhl“ schließlich aufgab.
Das Baugelände im Wyhler Rheinauewald wurde nach einigen Jahren dann klaglos zum „Naturschutzgebiet“ umgewidmet. Wie gut, denkt man heute nach einen halben Jahrhundert. Wie gut für die „(All-)Gemeinheit“! Denn die Saat einer notwendigen ökologische Bewegung, ein Nachdenken und Umsteuern in vielen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen ist in Europa und weltweit genau hier am Kaiserstuhl aufgegangen.
Und wie sieht es heute in der Gegend der zwei besetzten Bauplätze aus?
Allmählich sorgt „Gevatter Tod“ für die natürliche Auslichtung der beiden Widerstandsnester, so dass eine gewisse Ruhe in der Raumschaft eingekehrt ist.
JahSchreiWe-Hausaufgabe 8. Mai 24 „So eine Gemeinheit!“ von Roland Burkhart